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Wenn Küsse schmerzen - Kissing Spines beim Pferd

Aus eigener Erfahrung kann ich aus dem Leben mit einem Kissing Spines-Pferd berichten. Diese Pferde sind keine normalen Pferde, sie sind meist sehr sensibel und werden oftmals (aus Unwissen) als "Problempferde" beschrieben. Das sich zur Wehr setzen solcher Pferde entspringt jedoch in den meisten Fällen nicht aus mutwilliger Arbeitsverweigerung, sondern hat einen physischen Grund.

Das Wort "Kissing Spines" kann wortwörtlich mit "sich küssende Dornfortsätze" übersetzt werden. Die Dornfortsätze sind die Endstücke der Brust- und Lendenwirbelsäule und können bei Annäherung aneinander beziehungsweise bei Berührung starke Schmerzen im Pferderücken auslösen. So eine Annäherung passiert dann, wenn Pferde nicht gelernt haben, ihren Rücken unter dem Reiter einzusetzen, denn durch die Kontraktion des langen Rückenmuskels entsteht eine Absenkung (Lordosierung) und Verspannung der gesamten Wirbelsäule; das heißt das Pferd hat nicht genügend Muskulatur aufgebaut, um den Rücken beim Reiten anzuheben. Dadurch arbeiten die normalerweise wirbelstabilisierenden Muskelgruppen nicht mehr richtig und es kommt durch weitere verschiedene Stoffwechselvorgänge zu Milchsäureansammlungen in der Muskulatur und letztendlich zu weiteren Verspannungen rund um die Wirbelsäule. Daraus resultieren Entzündungen, welche im schlimmsten Fall zu einer Sklerosierung (Gewebeverhärtung) der Dornfortsätze führen. Diese Ablagerungen sind auf Röntgenbildern von Kissing Spines-Pferden als weiße Linien am oberen Rand der Dornfortsätze zu erkennen und lassen auch den Abstand zwischen ihnen immer schmaler werden, bis hin zur permanenten Berührung - was für das Pferd eine starke Schmerzbelastung bedeutet. 

 

"Kissing Spines" mit weißen Linien am Rand (Copyright/Foto: privat/S. Riegg)

Man geht jedoch auch davon aus, dass die Veränderungen in der Tiefe - also nicht nur dort wo geröngt werden kann - um einiges schlimmer sind und somit auch dort Entzündungen und damit einhergehende Schmerzen auf dem Pferd lasten.

Wie aber kommt es zu dieser Situation?

Kissing Spines können angeboren sein, durch einen Unfall entstehen, aber auch durch falsches Reiten hervorgerufen werden. Pferde die dauerhaft in absoluter Aufrichtung, das heißt durch bloße Einwirkung der Reiterhand, geritten werden, entwickeln im Laufe der Zeit eine Fehlbelastung der Knochen, Bänder und Muskeln. Das hat zur Folge, dass allein der lange Rückenmuskel - welcher eigentlich nur zur reinen Fortbewegung dient - zum Tragen des Reiters genutzt wird. Dieser muss sich also verkrampfen, um der Belastung standhalten zu können, was wiederum zu einer Verkürzung der Tritte und einer Fehlhaltung des Pferdekörpers führt. Und somit nimmt das Spiel seinen Lauf:  Das Pferd entwickelt Muskulaturveränderungen, verändert seinen gesamten Bewegungsablauf und tritt beispielsweise mit den Hinterbeinen nicht mehr unter den Schwerpunkt oder stockt beim Angaloppieren, da der lange Rückenmuskel in seiner Funktionalität des Vorankommens behindert wird. Das schöne Mitschwingen im Rücken ist in solch einer Situation nicht mehr zu erkennen und zeichnet sich durch eine feste Oberlinie aus, welche den Reiter im Sattel kaum noch geschmeidig sitzen lässt. Von Stocken über verhaltenes Vorwärtsgehen bis hin zur absoluten Widersetzlichkeit durch Schlagen nach dem Bein oder Bocken gibt es viele Hinweise auf Kissing Spines. Oftmals sind diese Pferde auch extrem unruhig in ihrer Kopfhaltung oder zeigen ihr Unbehagen in starkem Schweifschlagen. Ein Pferd in solch einer Situation zu strafen, wäre äußerst unfair - denn kein Pferd zeigt ein solches Verhalten ohne Grund.

Was kann ich als Reiter tun beim Verdacht auf Kissing Spines?

Da Pferde uns leider nicht mitteilen können, wo es ihnen schmerzt, sollte beim Verdacht auf Kissing Spines an erster Stelle ein Equipment-Check stehen, das heißt der Sattel und das Zaumzeug muss von einem Fachmann auf seine Passform am Pferd überprüft werden. Es sollte sichergestellt sein, dass gute Haltungsbedingungen - mit VIEL Bewegung - gegeben sind, die Zähne des Pferdes in Ordnung sind und die Hufbearbeitung passt. Ebenso sollte bei akutem Verdacht nicht auf einen tierärztlichen Rat verzichtet werden. Oftmals haben Pferde schon jahrelang Probleme mit starken Entzündungen im Rücken, zeigen diese jedoch erst spät. Sollte dies der Fall sein, müssen Entzündungen auskuriert werden und es muss sich an einen Trainingsplan gehalten werden, der es dem Pferd ermöglicht eine schmerzfreie Zukunft zu erhalten.

Wie kann ich Kissing Spines vorbeugen?

Jeder der lange Freude an seinem Pferd haben möchte, sollte sich im klaren darüber sein, dass er mit seiner "Reitkunst" genau zu dieser Gesunderhaltung eine Menge beitragen kann. Pferde sollten somit reitweisenunabhängig immer die Chance bekommen, sich zum Beginn des Training vorwärts-abwärts (V-A) zu dehnen. Da der lange Rückenmuskel zwar eine Fortbewegungsfunktion inne hat, aber nicht zum tragen taugt, muss dem Reiter bewusst sein, dass er hauptsächlich durch eine gute Oberhalsmuskulatur des Pferdes getragen werden kann. Durch die gerittene Dehnungshaltung im V-A entsteht im Pferdekörper eine gewisse Zughaltung zwischen Nacken- und Rückenband, welche hilft den Rücken anzuheben. Durch diese Anhebung werden die Dornfortsätze nach vorne oben gezogen, was zu einer positiven Anspannung der Muskeln führt und dabei den Rücken entlastet. Die hier beanspruchte Nackenmuskulatur ermöglicht es dann dem Pferd seinen Hals fallen zu lassen und wieder aktiver in der Hinterhand zu werden. Um dies zu erreichen muss der Reiter unbedingt an sich selbst arbeiten, seine Fehler erkennen und versuchen diese zu vermeiden. Zu viel Aufrichtung, zu früh durch eine harte Hand, Rollkur (Hyperflexion/LDR) oder auch zu enges Abstellen sollte unbedingt vermieden werden. Mehr Bein, weniger Hand ist hier die Zauberformel, denn wie sagt ein afrikanisches Sprichwort: "Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht."

 

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