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Vom Fehler-Gucker zum Stärken-Seher

Jeder von uns kennt das, wir sehen tagtäglich Pferde - verschiedene Rassen, Altersstufen, Ausbildungsstände fremder und unser eigener Pferde. Wir beobachten, analysieren und fällen unser persönliches Urteil  (meist unbewusst). Aber anstatt die Stärken eines Pferdes zu sehen, sehen wir oft erstmal die "Mängel".... wir sehen Taktfehler, ein schlechtes Exterieur und einen unmöglichen Charakter. Und je länger wir uns mit dem Thema Pferd beschäftigen, umso kritischer wird unser Blick - was nicht unbedingt negativ ist, denn keiner von uns sollte sich beispielsweise blauäugig in das dreibeinige, hustende Pferd mit ach so toller 5-Meter-Mähne verlieben und dieses zum Schnäppchenpreis von "nur" 10.000,00 Euro kaufen. Also ist ein gesundes Maß an Skepsis gepaart mit Wissen ratsam.

Aber wir Reiter neigen schon fast dazu nach Fehlern zu suchen. Und ich verspreche Euch, jeder der sucht wird fündig. Denn eine unbestreitbare Wahrheit gibt es: niemand ist perfekt und alles ist so wie wir es sehen wollen. Ein körperlicher Mangel in Form von Krankheit ist nicht schön zu reden und bedarf natürlich fachlicher Behandlung. Jedoch sind charakterliche Eigenschaften eines Pferdes immer Sache des Betrachters. Als "faul" und eher behebig betrachtete Pferde sind vielleicht nicht die perfekten Partner für eine spektakuläre Reining-Darstellung, können aber dafür im Trail ihre ruhige Art wunderbar unter Beweis stellen. Und eher blütige Typen mit viel Power sind meist sehr neugierig und haben eine schneller Auffassungsgabe, wodurch Neues rascher gelernt wird. Auch allein die Abstammung bestimmt nicht, wofür ein Pferd Talent hat. Ich habe schon Dressurpferde gesehen, welche liebend gerne springen und durch ihre eigene Motivation sogar mehr Talent dafür zeigten als für hohe Dressur-Lektionen. Bei Pferden ist es wie bei uns Menschen: macht uns etwas Freude, dann werden wir darin besser und lernen schneller. Unsere Pferde erkennen selbst nicht, worin sie gutes Potential haben; dafür sind wir zuständig. Und haben wir das erkannt, können wir dieses Potential im Training zu fördern.

Wir Menschen sehen was für uns "fehlerhaft" ist und stehen uns und besonders unseren Pferden damit oft im Weg. Wir sollten anfangen, unser Auge nicht nur auf Mängel auszurichten, sondern besonders auf die Stärken unserer Pferde. Wir sollten uns bewusst machen, dass wir selbst doch auch nicht perfekt sind, aber die Menschen in unserem Umfeld uns doch auch genau dafür mögen. Nach Fehlern zu gucken ist keine Kunst, aber Stärken zu sehen, diese zu fördern und für das Training und den Umgang zu nutzen ist Weisheit. Pferde sind wunderbare Tiere und haben eine Menge Eigenschaften, die sie - genauso wie uns - einzigartig macht.

Oftmals hilft es, wenn wir uns bewusst machen, warum wir eigentlich Reiter sind: weil wir Pferde lieben - und doch nicht, weil wir in ihnen lauter Fehler sehen.

 

Text: S. Riegg / Foto: K. Ziesel

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