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Great things take time - Der Faktor Zeit in der Pferdeausbildung

Zeit ist zu einem raren Gut in unserer Leistungsgesellschaft geworden. Unter den heutigen Bedingungen mit Arbeitsalltag und Hobbys setzen sich Menschen gerne selbst unter Zeitdruck, um allem gerecht werden zu können. Zeitdruck wird heutzutage auch gerne mit Stress gleichgesetzt. Das Wort Stress hat seinen Ursprung im Lateinischen von dem Wort "stringere" was so viel bedeutet wie "anspannen"; erstmals vorgekommen ist das Wort im 20. Jahrhundert. Die Menschen in den Jahrhunderten zuvor hatten also keine klare Bezeichnung für ihre körperliche oder psychische Belastung. Sie fanden sich mit ihrer Lebenssituation ab und hatten mal mehr und mal weniger anstrengende Tage. Heutzutage ist das Wort Stress nicht mehr wegzudenken aus unserer Leistungsgesellschaft. Jeder von uns hatte schon mal Stress. Alles ist in Zeiteinheiten eingeteilt: das Schulsystem, die Ausbildung, das Studium und das Arbeitspensum. Alles soll möglichst effizient und überschaubar ablaufen. Menschen wollen immer noch mehr erledigen in immer kürzeren Zeitabschnitten und verspüren dadurch Stress. Stress ist ein hochkomplexes Thema und beeinträchtigt die Gesundheit und somit unsere Lebensqualität enorm. Bei langanhaltendem Stress werden Menschen krank und sind in einigen Fällen gar nicht mehr leistungsfähig. Und all das nur weil man eigentlich noch schneller und besser sein wollte ...

 

Doch was hat das denn nun alles mit der Pferdeausbildung zu tun? Eine ganze Menge, denn unser täglich verspürter Stress macht natürlich nicht Halt vor unseren Pferden: alles muss relativ schnell in einem bestimmten Zeitrahmen passieren. Pferdeausbildung wurde zur Dienstleistung, welche in einem bestimmten Zeitfenster erledigt werden soll. Es entsteht unweigerlich Zeitdruck - Zeitdruck für Ausbilder/Trainer und letztendlich auch für die Pferde.

Jeder einigermaßen pferdeaffine Mensch weiß aber, dass Zeitmangel und Stress in der guten Ausbildung eines Pferdes pures Gift sind. Lernen ist ein individueller Prozess und es kann nicht festgelegt werden, wie schnell ein Lebewesen zu lernen hat. Aber warum machen es dann doch so viele Pferdebesitzer und verlangen von Trainern und Pferden in einem relativ engem Zeitrahmen ein bestimmtes Ergebnis? Ganz einfach weil Zeit Geld ist. Gutes Pferdetraining kostet Geld und natürlich möchte und kann sich nicht jeder Pferdebesitzer acht Monate Vollberitt leisten. Menschen wollen gerne kalkulieren, sie rechnen mit Ergebnissen die sie erhalten/sehen möchten innerhalb von Zeitfenstern. So soll zum Beispiel ein dreijähriges Pferd, das von der Koppel direkt ins Training kommt innerhalb von drei Monaten, alle Grundgangarten ausbalanciert laufen können. Dass das rein körperlich für das Pferd aber eine Tortur darstellt und erhebliche Spätfolgen mit sich ziehen kann, vergessen viele. Aber was ist nun die Lösung?

 

Die Lösung ist eigentlich ganz einfach:

Man nehme eine handvoll gesunden Menschenverstand, bereits vorhandenes Wissen rund ums Pferd, eine Brise Logik, etwas Offenheit Neues zu lernen und nicht zuletzt eine große Menge Zeit. Denn ohne Zeit kann nichts Beständiges entstehen. Natürlich ist es möglich in kurzer Zeit Erfolge zu sehen, ob diese aber Bestand und somit eine gute Basis haben ist mehr als fragwürdig.

Bisher habe ich kein Pferd kennengelernt, das innerhalb von 12 Wochen eine Grundausbildung hinter sich bringen konnte und danach in allen Gangarten ausbalanciert gelaufen ist. Dies ist aus rein physiologischer Sicht schon gar nicht möglich, denn wie beim Menschen muss sich der Körper des Pferdes an die neue Belastung anpassen: Muskeln werden im Gegensatz zu Bändern und Sehnen schnell auftrainiert. Das Fasziengewebe (Sehnen/Bänder) hingegen benötigt bis zu 24 Monate bis es in sich gestärkt und bereit für höhere Belastungen ist; diese Gewebeart kann nicht einfach so auftrainiert werden, sondern muss langsam aber stetig gestärkt werden. Und nur wenn der Faszienapparat des Pferdes stark genug ist, kann ein Pferd Belastungen (auch im Sport) aushalten ohne einen allzu großen Schaden (Sehnenverletzungen/Fesselträgererkrankungen usw.) zu überstehen.

Genauso ist das auch mit der Psyche des Pferdes; stand das Pferd bisher nur auf der Koppel und genoß das süße Leben, ist es eine enorme Umstellung mit all den Eindrücken (neuer Stall, anderer Boxennachbar, neuer Tagesablauf, neue Menschen etc.) im Training klarzukommen und das sollte keineswegs unterschätzt werden. Physisch und psychisch hat das Pferd somit einiges zu verdauen und kann nicht wie wir Menschen einschätzen, warum das nun jetzt gerade so passiert. Es kann nicht logisch abschätzen, welcher Leistungsstand nach den drei Monaten von ihm verlangt wird.

Und hier ist nun unser gesunder Menschenverstand gefragt. Wir können logisch denken und sollten auch mal alles, was wir bisher über Pferde und deren Bedürfnisse kennen ÜBERdenken. Natürlich ist es Fakt, dass Pferde in erster Linie nicht zum Reiten geboren sind, aber wenn wir es schon tun, sollten wir die Umstände "wie" wir es tun an die natürlichen Bedingungen des Pferdes anpassen. Das heißt dem Pferd die individuell nötige Zeit geben, um lernen und sich anpassen zu können an die psychische sowie physische Belastung. Dies sollte unbedingt auch mit dem Ausbilder kommuniziert werden, denn der Pferdebesitzer selbst kennt sein Pferd am besten. Ein guter Trainer wird eine ehrliche Einschätzung abgeben und wenn es nötig ist auch mal eine Pause einlegen. Hierbei sollten Trainer und Besitzer flexibler werden, sie sollten gemeinsam nach optimalen Lösungen suchen, bei denen das Pferd (um das es ja schließlich geht) an erster Stelle steht. Es ist keinem geholfen, wenn Zeitdruck und Stress das Pferdetraining dominieren und meist macht dies die ganze Sache eher schlechter als besser. Wir müssen lernen etwas zu entschleunigen und zu erkennen, dass Pferdetraining nicht in einen bestimmten Zeitrahmen zu pressen ist. Zeit und Wissen sind eine unschlagbar gute Kombination im Umgang mit Pferden, denn eine gute Basis besteht genau aus diese zwei Faktoren. Etwas Beständiges zu erschaffen gelingt nicht mit Zeitmangel oder gar Stress, denn wie heißt es so schön: Great things take time! 

 

(Copyright: S. Riegg / Photo: EquiShot)

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